Im Lauf dieses Jahres ist mir eine Entwicklung im Seminarraum aufgefallen: Das Smartphone füllt auch noch die letzten Lücken im Seminar-Ablauf. Das sieht dann so aus:
In der TextWerkstatt arbeiten meine Teilnehmenden an einer Übungseinheit, zum Beispiel texten sie einen Teaser für ihren Newsletter. Die vereinbarte Arbeitszeit beträgt 15 Minuten. Einige Teilnehmer*innen sind früher fertig als andere. In den verbleibenden drei Restminuten der Arbeitszeit, während die anderen noch schreiben, wird das Smartphone zur Hand genommen. Ob für den Check von E-Mails, WhatsApp oder Web – das weiß ich nicht, ich frage auch nicht danach.

Das Smartphone füllt die Lücke
Denn es geht mir hier gar nicht um Kontrolle. Es kann wichtige Gründe geben, das Smartphone auch während eines Seminars zur Hand zu nehmen und zu nutzen: Eine erwartete Nachricht, eine Terminvereinbarung, ein krankes Kind zu Hause.
Aber kann es wirklich sein, dass gerade in diesem Jahr so viele Kinder krank waren und so viele Termine auf der Kippe standen? Ich denke, die Antwort ist einfacher:
Das Smartphone drängelt sich einfach rein, ist allzeit verfügbar, füllt mittlerweile selbst kleinste zeitliche Lücken.

Die Lücke ermöglicht Kreativität
Und genau um diese Lücke geht es. Kreativität, Texten, Innovation: Das alles lebt von der Lücke.
Andere Begriffe für die „Lücke“ sind: Innehalten, in die Weite schauen, entspannen, eine Pause machen, Dinge geschehen lassen, Entwicklung zulassen, sich Zeit nehmen, Langeweile.

Kreativität erster und zweiter Ordnung
Aus meiner Erfahrung als TextCoach und Autor unterscheide ich zwei Phasen der Kreativität.
Kreativität erster Ordnung: Das ist der Standard-Modus, wenn es darum geht, einen Text zu erstellen, einen Entwurf zu skizzieren, eine Idee zu generieren.
Kreativität zweiter Ordnung: Das ist der Extra-Modus, wenn es darum geht, Kreativität auf eine neue Stufe zu heben. Dazu braucht es Zeit. Vor allem Zeit. Zum Beispiel genau die drei Minuten, in denen die anderen noch schreiben. Dann gilt es, in die Weite zu schauen, den geschriebenen Text vielleicht nochmal durchlesen, absichtslos die Gedanken schweifen lassen – und das Smartphone stecken lassen.
Dann kann etwas passieren: Eine neue Idee scheint auf, eine noch bessere Formulierung entwickelt sich, eine passende Überschrift formt sich. Wer sich diese kreative Lücke, diese Phase der Kreativität zweiter Ordnung durch das Smartphone füllen lässt, bleibt bei der Kreativität erster Ordnung stecken. Das ist nicht schlecht. Ganz ok. Dienst nach Vorschrift. Passt schon.
Aber: nicht brilliant, nicht innovativ, nicht das entscheidende Stückchen weiter.

Schade um den Glücksmoment
Überdies bringt man oder frau sich um einen echten Glücksmoment. Den Moment, in dem sich eine wirklich gute Formulierung findet. Den Moment, in dem sich ein Text rundet. Oder einfach einen Moment der Entspannung.

Die Lücke genießen

Spinnen. Nachdenken. Träumen.