So sieht die aktuelle Lage aus. Als Linguist beobachte ich die Entwicklung seit über 30 Jahren – angefangen von einer Luise-Pusch-Vorlesung ca. 1990 über erste Erfahrungen mit dem Binnen-I bis hin zu Genderstern und Co.
Einige aktuelle Einschätzungen:

Ungeduld: verständlich, aber eher kontraproduktiv
Auch wenn viele Aktivist*innen das vermutlich nicht gerne hören: Es geht erstaunlích schnell voran mit dem Gendern. Von Audi bis Telekom, vom ZDF bis zum Sonnenstudio um die Ecke – kaum ein Unternehmen, das mich nicht als Kund*in oder Kund:in anspricht.
Wenn Ungeduld übers Ziel hinausschießt, entsteht Provozierendes, das aber die Akzeptanz des Genderns nicht fördert. Zum Beispiel: „Witwerinnen und Witwer“ – eine Gender-Blüte aus der Wochenzeitung Die Zeit.

Gendern geht über die Wortebene hinaus
Als Linguist weiß ich um die Zeiträume, in denen sich Sprachwandel vollzieht. Da sind 30 Jahre ein Klacks. Sicher: Auf der Wortebene kann Sprachwandel schnell gehen, ein neues Jugendwort ist schneller geschaffen und verschwunden als Erwachsene es überhaupt mitbekommen. Aber sobald Sprachwandel weitere Ebenen betrifft, dann ist er doch recht langsam. Das lässt sich im wahrsten Sinne des Wortes leicht daran ablesen, dass wir heute Goethe immer noch verstehen, selbst wenn wir in einer Originalausgabe aus dem 18. Jahrhundert blättern.

Fragen der Grammatik
Je mehr gegendert wird, desto mehr geht es nicht nur um einen Stern oder einen Doppelpunkt. Sondern es geht um Fragen der Grammatik und Sprachvermittlung. Es geht zum Beispiel um:

• Fragen der Wortbildung: Wie funktioniert das mit den zusammengesetzten Hauptwörtern im Alltag? —Teilnehmer*innenfeedback, Ärztin-Praxis
• Fragen zum Zusammenwirken von Begleiter und Hauptwort: Ist ab jetzt ein feminines Possessivpronomen mit einem maskulinen Nomen erlaubt? —Vereinbare jetzt einen Termin bei deine:r Trainer:in
• Fragen der Pluralbildung: Ist die Student oder die Kund eine neue maskuline Pluralform? —die Student*innen, die Kund*innen
• Fragen im Bereich Dativ oder Genitiv: Ist den Teilnehmer eine neue maskuline Dativ-Variante? — Der Kurs gibt den Teilnehmer*innen einen Überblick
• Fragen der Pragmatik: Was ist, wenn gegenderte Sprache elaborierte oder elitäre Sprache ist? –Holen Sie sich ärztlichen oder pharmazeutischen Rat
Diese Fragen sind spätestens im Schulunterricht, im Unterricht Deutsch als Fremdsprache oder im Studium nicht mehr trivial.

Abwehr: verständlich, aber oft engstirnig
Neben unverbesserlichen „Sprachpflegern“, die noch bei jedem Anglizismus Sprachverfall wittern, gibt es natürlich auch intelligente Kritiker*innen des Genderns. Aber zumindest eines ihrer zentralen Argumente ist bei näherer Betrachtung erstaunlich schwach. Das Argument lautet: Gendern sei gar kein authentischer Sprachwandel sondern aufgenötigte Veränderung. Die Vorstellung hinter diesem Argument ist einigermaßen absurd. Hier also der gute Sprachwandel, der gewissermaßen von unten angestoßen, nach jahrelanger Praxis in alltäglicher Nutzung das Subjekt Sprache dazu bewegt, sich zu wandeln. Dort böse Sprecher*innen, die von oben das Objekt Sprache so verändern, dass die Sprecher*innen da unten in eine schöne neue Sprachwelt gezwungen werden.

Garniert wird das Ganze dann mit Schenkelklopfern à la „Studierende, die in der Mensa essen, studieren nicht“. Ein Blick in die Grammatik zeigt, dass die Substantivierung von Partizipien ein recht produktives Mittel der Wortbildung im Deutschen ist. Auch die Vorsitzende eines Vereins kann am Redepult stehen und nach der Mitgliederversammlung mit dem Fahrrad nach Hause fahren, ohne dass sie umbenannt werden müsste.

Doppelpunkt auf dem Vormarsch
Noch vor drei Jahren standen die Chancen gut für den Genderstern. Mittlerweile macht sich der Doppelpunkt daran, zum Gender-Signal Nr. 1 zu werden. Der Doppelpunkt ist auf der Tastatur einfach zu einfach zu finden. Der Doppelpunkt signalisiert eine Sprechpause, ein „Achtung“ schwingt mit. Gegen den Doppelpunkt sprechen aber seine etablierte Funktion als Satzzeichen sowie Probleme der Barrierefreiheit. Der deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband ist nicht glücklich mit dem Durchmarsch des Doppelpunkts. Als Linguist lautet meine Empfehlung ganz klar: Genderstern statt Doppelpunkt.

In diesem Zusammenhang ist festzustellen: Gendern führt aktuell zu behördlicher und unternehmerischer „Kleinstaaterei“: Die einen gendern mit dem Stern, die anderen mit dem Doppelpunkt, die dritten wieder anders. Und wir da draußen müssen uns je nach Kontext und Auftraggeber*:_in auf neue Varianten einstellen. Wenn ich mit Audi arbeite, dann muss ich die Audi-Regeln beachten, wenn ich mit der Telekom arbeite, dann muss ich die Telekom-Regeln beachten. Apropos Regeln: Gender-Leitfäden sind meist nicht alltagstauglich. Sie regeln zwar den Gebrauch von Genderstern und Neutralisierungen. Sie sagen aber in aller Regel nichts zu den Details, also Dativ, Pronomen, Singular, Komposition von Hauptwörtern. Schreiben wir also Dezernent*innen-Konferenz, Dezernent*innenkonferenz oder Konferenz der Dezernent*innen? Schreiben wir „Wir suchen eine/n erfahrene/n Grafiker*in“? Oder „Wir suchen eine* erfahrene* Grafiker*in?“.

Was also tun zwischen Ungeduld, Abwehr und Doppelpunkt?
1. Gelassen bleiben: Ungeduld hier. Abwehr dort. In diesem Spannungsfeld hilft nur: Gelassen bleiben. Pragmatische Lösungen finden. Zielgruppen und Stakeholder mitnehmen.
2. Zielkonflikte ansprechen: Neben dem Gendern gibt es noch eine ganze Reihe von Anforderungen an Sprache: Barrierefreiheit, Usability, SEO. Hier ist es wichtig, Zielkonflikte anzusprechen und Lösungen zu skizzieren.
3. Auch Details regeln: Nicht nur die grobe Linie vorgeben. Auch klären, was Mitarbeitende in Zweifelsfällen tun sollen. Workshops anbieten.

Gerne unterstütze ich Sie in einer TextWerkstatt dabei, das zu konkretisieren.
Apropos konkretisieren: Hier der Link zum Newsletter-Beitrag Januar 2019 mit einigen Tipps!